Bitte mehr REDEZEIT – Interview mit F. Schleinig

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Mentale Gesundheit braucht REDEZEIT. Informieren Sie sich im aktuellen #mentalhealthworks-Interview über den Service REDEZEIT FÜR DICH.

#mentalhealthworks ist eine Initiative mehrerer Unternehmen, um Firmen, Krankenkassen und öffentliche Institutionen bei Fragen zur psychischen Gesundheit zu unterstützen. Aufeinander abgestimmte Mental Health-Angebote sollen dabei helfen, das Thema “leichter” zu machen und/oder einen Einstieg zu ermöglichen. Ein Mental Health-Navigator zeigt die verschiedenen Einstiegsmöglichkeiten in die Verbesserung der psychischen Gesundheit und Steigerung der Leistungsfähigkeit.

Florian Schleinig von REDEZEIT FÜR DICH ist einer der Initiatoren der Plattform, die sich darum kümmert, das etwas ganz Elementares im Bereich der psychischen Gesundheitsvor- und -fürsorge seinen Platz bekommt – nämlich das REDEN über die Dinge. Er ist heute mein Interviewpartner.

Erzähl uns kurz etwas zu „Redezeit für Dich“. – Was macht ihr?

REDEZEIT FÜR DICH ist eine gemeinnütze Plattform mit mittlerweile über 400 ehrenamtlichen ausgebildeten Zuhörer:innen. Das heißt, es sind Coaches und Psychologinnen, die allen Menschen zuhören, die seelisch etwas belastet.

Wir sind gemeinnützig, sind alle ehrenamtlich engagiert (auch im Orga-Team) und verfolgen kein wirtschaftliches, politisches, religiöses oder sonstiges Ziel. Außer das Ziel, die Menschen für ihre eigenen Belastungen zu sensibilisieren und dazu zu bringen, mit Menschen, die sie nicht kennen, die also eine Distanz zu ihrem Thema haben, reden zu können. Wir denken, dass das die Grundlage für jeden Menschen sein sollte, die eigenen seelischen Belastungsgrenzen kennenzulernen und zu wissen, wenn ich einmal morgens mit dem falschen Fuß aufstehe, ist das ok, aber wenn ich über einen längeren Zeitraum z. B. mit Ängsten, Frust oder anderen Belastungen zu kämpfen habe, dann können daraus psychische Erkrankungen erwachsen.

Da möchten wir als REDEZEIT schon viel früher intervenieren, BEVOR es eine Krankheit wird.

Mental Health ist aktuell ein Top-Thema. Warum sollten sich Unternehmen darum kümmern?

Das hat für uns einen sehr wesentlichen Grund. Ich behaupte mal, dass über 50% unserer seelischen Belastungen am Arbeitsplatz ausgelöst werden. Und ich bzw. wir finden, dass Unternehmen eine Sorgfalts- und Fürsorgepflicht ihren Mitarbeitenden gegenüber haben sollten. Da geht es nicht nur darum, ob die Mitarbeitenden gerade am Schreibtisch sitzen oder ihre 3 bis 4 Schritte am Tag tun – also um das klassische BGM, sondern auch um die weichen, die seelischen Faktoren.

Ich recherchiere auch gerade, was das kostet, wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin aufgrund seelischer Belastung ausfällt. Am Ende wird das eine ganze Menge ausmachen – nicht nur in finanzieller Hinsicht (z. B. müssen andere Mitarbeitende die Arbeit ggf. auffangen, Wiedereinglierungsmaßnahmen stattfinden etc.; Anm. MS).

Kurz gesagt: Es geht um die Fürsorgepflicht. Punkt.

Wie unterstützt „Redezeit für Dich“ die Unternehmen dabei?

Für die Unternehmen gibt es viele Mittel und Wege und unterschiedliche Punkte, wo sie bei der Verbesserung der mentalen Gesundheit ansetzen können. Aus unserer Sicht können sie ganz einfach unser Hilfsangebot allen Mitarbeitenden regelmäßig und redundant immer wieder vorstellen und anbieten und darauf hinweisen, dass sie sich gerne im Falle seelischer Belastungen an uns wenden können. Wir helfen ihnen auch bei der Kommunikation.

Man muss dazu sagen, dass die Barrieren bei uns in Deutschland noch recht hoch sind, dass sich Menschen hierzulande zum Beispiel im Vergleich zu den USA seltener und später darauf einlassen, mit jemandem über ihre Belastungen zu sprechen. Gerade wenn das Angebot von Arbeitgeberseite kommt, sind viele noch sehr verhalten, weil die Angst, dass das dort Besprochene auf irgendeinem Wege zum Chef zurückkommt, noch sehr groß ist. Da fehlt bei uns noch das Vertrauen, dass es geschützte Räume zum Reden gibt. Aber genau so einen Raum haben wir bei REDEZEIT FÜR DICH geschaffen. (Mehr zum Thema Datenschutz bei REDEZEIT siehe weiter unten. Anm. MS)

Wir unterstützen die Unternehmen auch sehr gerne dabei, Texte für die Kommunikation zu erstellen, geben ihnen Bildmaterial etc. an die Hand oder gehen mit ihnen ins Brainstorming, wenn sie noch kreative Ideen brauchen, wie sie unser Hilfsangebot ihren Mitarbeitenden über ihre internen Kanäle nahebringen können. Übrigens ohne Extrakosten. Wie schon gesagt, wir arbeiten ehrenamtlich und es ist uns wirklich ein Herzensanliegen.

Welche Lücke schließt „Redezeit für Dich“ in der Mental Health Care-Kette?

Wir sind ganz klar in der Praxis zuhause. Wenn unsere Partner:innen aus der #mentalhealthworks Initiative wie z. B. die mentalhealthcrowd oder WE ARE MENTAL eher auf der Seite der Aufklärung, der Bewusstmachung von seelischen Gefahrenquellen und Risiken stehen, dann bieten wir ergänzend praktische Hilfe an und zwar erst mal durch klassisches Zuhören.

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Ähnlich wie bei der Telefonseelsorge, aber mit dem Unterschied, dass wir zum einen digital erreichbar sind und man sich bei uns im Vorfeld anschauen kann, welche Zuhörer:innen für das eigene Thema zur Verfügung stehen. Bei den anderen Hilfstelefonnummern weiß man im Vorfeld nie, mit wem man spricht. Es gibt z. B. Menschen, die für bestimmte Anliegen einen Zuhörer mit bestimmtem Geschlecht bevorzugen. Das ist gar nicht wertend gemeint, aber wenn ich lieber mit einer Frau spreche, kann ich das bei anderen Hotlines nicht beeinflussen und verstecke mich in einem Gespräch mit einem Mann vielleicht eher. Bei uns ist klar, mit wem ich reden kann, wodurch sich die positive Wirkung der Hilfsleistung verstärken kann.

Die Telefonseelsorge war und ist ein wichtiger Wegbereiter und ich glaube, wir können mit REDEZEIT noch einen Schritt weiter gehen, weil wir schon bei der kleinsten Belastung anfangen können, zu unterstützen. Das kann Frust sein, ein Konflikt in der Familie… eigentlich alles, wo wir jetzt noch denken „Ok, ist halt jetzt so, da streitet man sich halt mal“ und uns nicht weiter darum kümmern. Aber jede Art des Konflikts, der Belastung, hat ja ihre Quellen und wir versuchen eben, so frühzeitig wie möglich auch die Probleme HINTER den Problemen anzugehen.

Möglicherweise senkt unser Name REDEZEIT FÜR DICH auch die Hemmschwelle, sich bereits mit kleinen Problemen an uns zu wenden; während „Seelsorge“ suggeriert, dass man da erst mit den wirklich „schweren“ Problemen aufschlagen darf. Wir haben für alles und jede:n ein offenes Ohr.

Warum ist Reden ein gutes Mental Health Instrument?

Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto mehr entdeckte ich, wie sehr die Wissenschaft schon das Thema Reden und Zuhören und seine Wirkweise beleuchtet hat. Die Erkenntnisse kurz runtergebrochen: Reden hat eine starke Wirkung, vor allem auf den Redner, die Rednerin.

Reden ermöglicht es uns, eine Distanz zum Thema aufzubauen, weil man den meist stark emotional gefärbten Gedankensalat im Kopf ordnen und in Worte fassen muss. Dinge, die erst mal nur diffus in unserem Kopf „herumwabern“ oder sich zu einem regelrechten Knäuel an Gedanken, Meinungen, Ängsten etc. verknotet haben, dröseln wir beim Reden Stück für Stück auf und sehen dann oft selbst schon klarer. Auch Nachfragen des/der Zuhörenden können dabei helfen, einen anderen Blickwinkel zu bekommen und mögliche Lösungsansätze zu erkennen.

Reden befreit aus emotionaler Isolierung, es hellt die Stimmung auf und bringt wieder Licht ans Ende des Gedankentunnels. Aus Belastung wird Entlastung.

Im Bereich psychische Gesundheit sind Scham, Datenschutz, Diskretion ein Thema. Warum kann man Euch vertrauen?

Unser Hilfsangebot ist niedrigschwellig. Das ist für uns ein sehr wichtiger Aspekt. Man muss sich bei uns nicht anmelden oder registrieren. Auch dann nicht, wenn man einen Zuhörer/eine Zuhörerin kontaktiert. Meistens findet der Kontakt über E-Mail statt und selbst da ist es möglich, komplett anonym zu bleiben und mit einer kryptischen Mailadresse zu arbeiten, die nicht preisgibt, wer sich dahinter verbirgt. Der Kontakt mit uns und unseren Zuhörer:innen hinterlässt also keine Spuren.

Schon von Beginn an war unsere Haltung, dass REDEZEIT FÜR DICH so schnell und niedrigschwellig wie möglich sein sollte, ohne irgendwelche Hürden und mit so wenig Daten wie möglich. Deswegen sind wir auch kein geschlossenes System wie z. B. soziale Netzwerke und haben auch keine klassische Datensatzerhebung. Wir sehen zwar via Google Analytics aus welchen Richtungen jemand auf unsere Seite findet, nach welchen Begriffen gesucht wird, aber das war es auch schon. Selbst diese Daten und Infos sind anonymisiert und eine kumulierte Menge.

Wir können nicht nachvollziehen, wer mit welcher Zuhörerin/welchem Zuhörer spricht. Alle unsere Zuhörer:innen unterzeichnen übrigens auch eine Compliance-Erklärung, dass sie das, was im Gespräch gesagt wird, nicht weitergeben.

Um es auf den Punkt zu bringen: Uns kann niemand zwingen, Daten herauszugeben, denn wir haben sie gar nicht. REDEZEIT ist ein anonymer Raum für Vertrauen.

Ihr seid Teil der #mentalhealthworks-Initiative. Was sind Eure Benefits?

Wir sind ja noch ganz frisch bei der Initiative dabei und ich finde es spannend, die Menschen kennenzulernen, die hier mitarbeiten. Besonders toll finde ich das bereits entwickelte „Bausteinprinzip“, das vielen Unternehmen auch mit wenig Budget ermöglicht, genau die Möglichkeiten für sich herauszupicken, die sie brauchen. Wir als REDEZEIT sind der „Baustein im Bereich der praktischen Hilfe“. Aktuell arbeiten wir an einem flexiblen Preismodell, das es Unternehmen ermöglicht, unser Hilfsangebot z. B. nur in den „dunklen“ Monaten zu buchen, da sich herausgestellt hat, dass in der klassischen Herbst-Winter-Zeit mehr Gesprächsbedarf besteht.

Das gemeinsame Ziel der Initiative ist es, mentale Hilfe 360°-Grad zu denken und auf die Straße bzw. in die Unternehmen zu bringen.

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Nur so kann dauerhaft und nachhaltig etwas Positives für unser aller seelisches Wohlbefinden erreicht werden.

Wie wäre es mit einem Abschluss-Statement?

Reden hilft. Wirklich. So banal es klingt. Wer es nicht glauben mag, darf es gerne ausprobieren und sich bei uns melden. Dafür plädiere ich sehr stark, auch dass sich Unternehmen trauen, REDEZEIT einfach mal zu testen. Niemand muss Angst vor Ablehnung oder dergleichen haben. Reden macht etwas mit einem. Das sollte jede:r einmal aufmerksam an sich beobachten.

Lieber Florian, vielen Dank für deine „Redezeit“ und dass du deinen Erfahrungsschatz mit uns teilst.
Das Interview führte Marion Steiner von Gesundheit Bewegt.